pro domo

Kurze Geschichte der Verhaltenstherapie

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Die Geschichte der Verhaltenstherapie beginnt, so könnte man sagen, mit einem berühmten Experiment des russischen Neurophysiologen Iwan Pawlow aus dem Jahr 1905. Er stellte fest, dass ein Hund, dem man Futter vorsetzte und gleichzeitig eine Glocke erklingen ließ, die infolge des Futter ausgelöste Speichelsekretion nach einigen Versuchsdurchgängen auch durch die Glocke alleine, also ohne das Futter, hervorgerufen wurde. Es hatte eine Art von Lernprozess stattgefunden. In den folgenden Jahrzehnten wurde diese Entdeckung ausführlich untersucht und es stellte sich heraus, dass man durch diese sogenannte klassische Konditionierung eine Vielzahl von Verhaltensweisen und körperlichen Reaktionen, darunter auch Krankheitssymptome, beeinflussen konnte.

Im selben Jahr 1905 (das überhaupt eines der fruchtbarsten Jahre der Naturwissenschaft war und zurecht als 'annus mirabilis' bezeichnet wird) veröffentlichte der amerikanische Psychologe Edward Thorndike sein 'Effektgesetz' (Law of effect), wonach angenehme Effekte eines Verhaltens dieses Verhalten wahrscheinlicher und unangenehme es unwahrscheinlicher machen. Darauf aufbauend begann in den 1940-er Jahren der (ebenfalls amerikanische) Psychologe B.F. Skinner damit, die Verhaltensänderungen durch Belohnungs- und Bestrafungsreize intensiv zu untersuchen und fand, dass auch auf diesem Wege eine Konditionierung, also die Erzeugung bedingter Reaktionen in vielfältiger Weise möglich war. Sein Ansatz erzeugte eine weitere Flut experimenteller Untersuchungen und wurde als operante Konditionierung der klassischen beigesellt.

Schließlich wurde noch ein dritter Lernvorgang, nämlich das Lernen am Modell und durch Nachahmung untersucht und aus diesen dreien ergab sich das Grundgerüst der ursprünglichen lerntheoretischen Verhaltenstherapie. Dabei war besonders bemerkenswert, dass eine 'Psyche' oder ein 'Bewusstsein' in diesen Ansätzen überhaupt nicht vorkam. Sie basierten alleine auf experimentell beobachtbaren Reaktionen infolge bestimmter Reize, und es war zur Vorhersagbarkeit dieser Reaktionen nicht notwendig, etwas wie eine Psyche anzunehmen. Also ließ man es bei dem einfachen input-output-Modell (der sogenannten 'black box') bewenden, beschränkte sich strikt auf das Beobachtbare und verbannte alle weiteren Erklärungen in den Bereich der Metaphysik. Man fand das um so mehr gerechtfertigt, als sich zu zeigen begann, dass die aus diesem einfachen Modell herleitbaren psychotherapeutischen Vorgehensweisen bei vielen Störungen außerordentlich wirksam waren.
In der praktischen Anwendung war dieses Modell - in dem sich eine experimentell hervorragend abgestützte Wirksamkeit mit einer gewissen mechanischen Seelenlosigkeit verbindet - sogar derart erfolgreich, dass sich selbst heute noch viele Menschen, darunter auch viele vorwiegend somatisch tätige Ärzte, darauf beziehen, wenn sie von Verhaltenstherapie sprechen.

VT 2.0

Zu Beginn der 70-er Jahre ging die Entwicklung aber dennoch weiter: Man wollte es nicht bei einer klinischen Psychologie ohne Psyche bewenden lassen und begann - vielleicht auch mit Blick auf die Psychoanalyse und die sich entwickelnden humanistischen Therapieverfahren (z.B. die Gestalt-Therapie) - sich neben dem äußeren beobachtbaren Verhalten auch den inneren, eigentlich-psychischen Zuständen, also dem Denken, Fühlen und Erleben, vermehrt zuzuwenden. Es erfolgte die sogenannte 'kognitive Wende' und es wurden Verfahren entwickelt, die man heute unter dem Namen 'kognitive (Verhaltens-)Therapie' zusammenfasst. Hier gab es nun viele Berührungspunkte sowohl mit der Allgemeinen Psychologie als auch mit anderen psychotherapeutischen Ansätzen. Aber die Psyche war den Behavioristen immer noch etwas unheimlich. Also tasteten sie sich sehr langsam voran und begannen erst einmal damit, bewusste Gedankenmuster und ihren Einfluss auf das Verhalten zu untersuchen.

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In einem dritten Schritt, ab den 90-er Jahren, traten weitere Facetten hinzu, z.B. die besondere Wichtigkeit einer guten therapeutischen Beziehung, ein Faktor, dem anderen Therapieverfahren, allen voran die Psychoanalyse, seit jeher große Aufmerksamkeit gewidmet hatten. Damit war der Weg bereitet für die systematische Beachtung auch anderer Beziehungen, besonders innerhalb der Familien, und so traten Aspekte der Entwicklungs- und Sozialpsychologie in den Kontext einer sich nun immer deutlicher abzeichnenden umfassenden Verhaltenstherapie. Besonders zu erwähnen sind auch hier wieder Berührungspunkte mit der psychoanalytischen Forschung zur sogenannten Objektbeziehungstheorie und zur Bindungstheorie, die heute aus der Psychotherapie nicht mehr wegzudenken sind. Außerdem trat die besondere Bedeutung der Emotionalität und des subjektiven Erlebens als steuernder Elemente unserer psychischen Entwicklung und Funktion in den Blick.
Durch diese Erweiterungen des ursprünglichen rein lerntheoretischen Ansatzes öffnete sich die Verhaltenstherapie gegenüber analytischen, tiefenpsychologischen und familientherapeutischen Konzepten: die wirksamen Elemente der Psychotherapie beginnen sich schulenübergreifend herauszuschälen und zu einer Allgemeinen Psychotherapie zu verbinden.

Unterstützt wird diese Entwicklung auch durch eine neue Wende der Psychotherapieforschung: Die Neurobiologie (d.h. die Hirnforschung, an der Vertreter sowohl der Verhaltenstherapie als auch der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse maßgeblich beteiligt sind) eröffnet einen Zugang zum Verständnis unserer psychischen Funktionen, auch von Krankheit und Therapie, der vor noch nicht allzu langer Zeit kaum vorstellbar war. Die 'black box' des menschlichen Gehirns beginnt ihre Geheimnisse nach und nach preiszugeben und wir können beispielsweise die Effekte von Therapien nicht mehr nur in statistischen Gruppenvergleichen, sondern auch direkt im Gehirn nachweisen. Gleichzeitig verstehen wir immer besser, wie groß der Einfluss der Psyche auch auf körperliche Krankheiten ist, und wie absolut unverzichtbar die Psychotherapie - selbst angesichts der großen Fortschritte der Psychopharmakologie - in der Heilkunde ist.

-2004 (leicht verändert 30.10.2011)-


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