pro domo

Zur psychotherapeutischen Identität

Dieser Aufsatz wurde in der Zeitschrift
'Forum Psychotherapeutische Praxis', 1/3 2001, S.110-112,
gedruckt und erscheint hier mit freundlicher
Genehmigung des Hogrefe Verlags.



Durch das Psychotherapeuten­gesetz haben die Heilberufe des psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten (im folgenden zusammen­fassend als Psychotherapeuten bezeichnet) zum ersten Mal eine klare gesetzliche Grundlage erhalten und das ärztliche Heilkunde­monopol im öffentlichen Gesundheits­wesen existiert nicht mehr. Es besteht daher Auftrag und Anlaß, sich Gedanken über die berufliche Identität der Psycho­therapeuten zu machen und aus der Heterogenität der Therapieschulen und der Nachbarschaft zum heilkundlichen Beruf des Arztes (der eine solche feste Identität seit langem besitzt) das Eigene zu bestimmen.

Dazu die folgenden Überlegungen:

1.
Psychotherapie ist psychologische Heilkunde.
So wie die medizinische Heilkunde alle Krankheiten (mit medizinischen Mitteln) behandelt, behandelt die psychologische Heilkunde alle Krankheiten mit psychologischen Mitteln. Unserem gegenwärtigen Kenntnisstand nach ist aber die Zahl der Krankheiten, die sinnvoller­weise mit medizinischen Mitteln behandelt werden, viel größer als die der psychologisch zu behandelnden. Das hängt neben der Natur der Erkrankung - soweit wir sie kennen- auch mit den Zielen der Therapie zusammen. Die Zahl der (auch) psychologisch zu behandelnden Krankheiten wächst jedoch, weil unser Kenntnis­stand wächst.
Zur Psychotherapie gehören alle Verfahren der psychologischen Heilkunde, also neben den sogenannten Richtlinien­verfahren (Psychoanalyse, Verhaltens­therapie, tiefenpsychologisch fundierter Therapie) auch die Gestalttherapie, Familientherapie, etc., sowie Hypnose, Biofeedback und Entspannungs­verfahren. Außerdem gehören dazu die entsprechenden Verfahren zu Diagnostik und Indikations­stellung, inklusive psychologischer und nicht-invasiver psycho­physiologischer Testverfahren.

2.
Durch das Psychotherapeuten­gesetz wird der akademische Heilberuf des Psycho­therapeuten definiert. Psychotherapie ist also nicht länger etwas, das auch von Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder-/Jugend­psycho­therapeuten durchgeführt wird, sondern die Psychotherapie hat ihre primäre - wenngleich nicht ihre ausschließliche - Heimstatt in diesen neuen Heilberufen. Daß an der Entwicklung und Ausübung der Psychotherapie Ärzte beteiligt waren und sind, macht sie genau so wenig zu einem Teilgebiet der Medizin, wie es die deutsche Klassik dadurch wird, daß Friedrich Schiller Arzt war.
Das Gebiet der (akademischen) Heilkunde ist nicht mehr umstandslos gleichzusetzen mit dem der Medizin, sondern diese Heilkunde teilt sich in eine medizinische und eine psychologische. (Innerhalb der letzteren läßt sich dann wieder unterscheiden nach den beiden durch das PTG geschaffenen Berufsgruppen und nach den Therapie­verfahren).

3.
Psychotherapeuten erhalten ihre Approbation, d.h. ihre Zulassung zum Beruf (und Grundlage ihrer beruflichen Identität), nachdem sie das Studium und die daran anschließende psycho­therapeutische Fach­ausbildung absolviert haben. Ärzte erhalten die Approbation nach dem Studium der Medizin und beginnen erst dann ihre Fach­ausbildung. Für Psychotherapeuten ist daher die Psychotherapie Wesensbestandteil ihrer beruflichen Identität, für Ärzte aber nicht.
Deshalb haben Ärzte die Tendenz, die Psychotherapie einfach als Teil­gebiet der medizinischen Heilkunde zu verstehen, und es ist gerade auch die Psycho­analyse gewesen, die einer solchen Sichtweise entgegengetreten ist: "Die Psychoanalyse [ist] kein Spezialfach der Medizin. [...] Die Psychoanalyse ist ein Stück Psychologie." (S.Freud, Nachwort zur 'Frage der Laienanalyse', 1927).

4.
Ärzte haben aber vor Psycho­therapeuten Vorrang, weil die medizinische Heilkunde, die das Leben bewahrt, in unserer Gesellschaft einen höheren Stellenwert hat und eine größere Verantwortung mit sich bringt als die psychologische. (Das ist übrigens so direkt im Erleben und Verhalten von jedermann beobachtbar, daß es, wie es die größten Selbstverständlichkeiten an sich haben, oft - und besonders natürlich von Psychologen - übersehen wird.)
Nur wenige Ärzte sind deshalb bereit, ihre ärztliche Identität zugunsten einer psycho­therapeutischen hintanzustellen. Zu diesen gehörte Freud selber (vgl.loc.cit), aber die meisten seiner ärztlichen Schüler folg(t)en ihm darin nicht.
Wiewohl also der Arzt vor dem Psychotherapeuten Vorrang hat, so hat er ihn als Arzt und nicht als Psychotherapeut. Die ärztlichen Verrichtungen (Spritzen, Verschreibungen, Krankenhaus­einweisungen, Krank­schreibungen etc.) sind nicht Teil der psychologischen Heilkunde und also von Psychotherapeuten auch nicht zu beanspruchen (nach der analytischen Regel übrigens auch dann nicht, wenn der Analytiker Arzt ist). Genau so wenig geht es aber an, dieses Spektrum der medizinischen Verrichtungen in das genuine Gebiet der Psychotherapie auszudehnen (Krisen­interventionen, niederfrequente Langzeit­betreuung, psychotherapeutische Behandlung von psychosomatischen Krankheiten, usw.) und den Psychologen und KJP einen Teil der psychotherapeutischen Kompetenz entziehen zu wollen, indem man diesen Teil einfach und freiweg als ärztlich definiert.

5.
Der Vorrang des Medizinischen ist begründet im Primat des Physischen und Biologischen in der Heilkunde. Dieses herrschte nicht immer, ist aber in den Industrienationen seit langem völlig unangefochten.
Die darin enthaltene Trennung von Leib und Seele (und dementsprechend auch von psycho­logischer und medizinischer Heilkunde) ist keine Erfindung der Psychologen, sondern es gibt Psychologen überhaupt nur wegen dieses sich in unserer Zeit immer schärfer konstellierenden kulturellen Phänomens, das der westlichen Philosophie von altersher innewohnt, aber erst im Protestantismus (und in gewissem Sinne im aufgeklärten Judentum) seine gegenwärtige Vollendung fand. Die wissenschaftliche Aufspaltung und Sezierung der Welt ließ lange Zeit die Psyche als letzten unerforschten Ort und eine Art Rückstand übrig. (Das mag wohl auch ein Grund dafür sein, daß die Psychologie trotz ihrer inzwischen bedeutenden natur­wissen­schaftlichen Anteile bei den Physikern in ebenso geringem Ansehen steht wie die Psychiatrie bei den Ärzten).

6.
Damit tritt eine zweite Komponente der psycho­therapeutischen Identität und die Nachbarschaft zu Theologie und Geistes­wissenschaft ins Blickfeld. Die Vermittlung von sinnhafter Einsicht in Krankheit, Leid und Tod gehört seit jeher zur "Seelsorge" und damit zu den Aufgaben des Pfarrers und Priesters. Aber im Zuge der "Verinnerlichung", d.h. der Nach-Innen-Stülpung all jener Restkategorien, die sich der natur­wissen­schaftlichen Analyse entziehen, werden auch Geist und Sinn zu etwas Innerem, etwas "Gehabtem", welches nicht mehr uns ergreift und verändert, sondern wir es, und so gerät auch die Domäne der Seelsorge unter den Einfluss der Psychologie bzw. Psychotherapie.
Dieser Prozess hat - es sei noch einmal betont - seine Ursache nicht in der Psycho­therapie, sondern diese hat ihre Ursache in jenem. Und die Psycho­therapie hat sich als eine gesellschaftliche Kraft neben der Ausübung der Heilkunde und der Erforschung von deren wissen­schaftlichen Grundlagen natürlich auch mit den kulturellen und geschichtlichen Bedingungen zu beschäftigen, denen sie unterworfen ist.

7.
Es gibt die Einheit von Leib und Seele. Aber es gibt sie nicht deshalb, weil man 1992 einen Facharzt dafür eingerichtet hat. Dieser "Facharzt für psycho­therapeutische Medizin", der im Zeitalter immensen Kenntnis­zuwachses, fortschreitender Spezialisierung und unerlässlicher Kooperation nun die auf einmal wiederentdeckte Einheit mit "biopsychosozialer Gesamt­kompetenz" zu vertreten und damit die Psychotherapie der Medizin wieder einzugliedern versucht, ist eine Kopfgeburt sondergleichen: ein Universalspezialist.
Die Einheit von Leib und Seele ist ein geistes­wissenschaftlich-philosophischer Tatbestand und kein natur­wissenschaftlich-medizinischer. Die Natur­wissenschaften sind ja gerade für die Zerlegung dieser Einheit mitverantwortlich. Und die Medizin hat eindeutig Stellung bezogen: Paracelsus ist Geschichte; Virchow hat gewonnen.
Es ist daher für die psychotherapeutische Identität notwendig, die Bemühungen um Zugehörigkeit zur medizinischen Heilkunde und ihren Agenturen durch eine enge und respektvolle Kooperation mit ihnen zu ersetzen. Diese Kooperation mit Haus- und Fachärzten setzen wir auch gegen die illusionäre "Gesamtkompetenz" der Universalspezialisten.

(8. Nachbemerkung:
Wenn in diesen Abschnitten mehr von Psychoanalyse die Rede war als von Verhaltens­therapie, so hat das seinen Grund in zweierlei: erstens darin, daß die Psycho­analyse die Urform einer systematischen Psycho­therapie darstellt und sich deshalb dort bereits früh einige der Fragen stellten, die es für eine psycho­therapeutische Identität zu beantworten gilt. Und zweitens, weil die Psycho­analyse auch nach dem PTG häufig den Anschein erweckt, den analytischen Hausfrieden unter allen Umständen bewahren und deshalb die analytische Identität nicht unter das Dach einer psycho­therapeutischen stellen zu wollen. Das aber wäre verhängnisvoll, für die Psychotherapie und ganz besonders für die Analyse selbst).



-2001;
hier veröffentlicht: 2014-



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