pro domo

Patient Gesundheit

(Der folgende Aufsatz ist Synopse und Ergänzung zweier Zeitungsbeiträge von Klaus Dörner (Gesundheitssystem: In der Fortschrittsfalle. Deutsches Ärzteblatt 99, Heft 38 vom 20.09.02) und Hans-Ulrich Deppe (Kulturwende in der Medizin. Frankfurter Rundschau, 20.8.02). Ich habe mich einige Zeit mit dem Gedanken getragen, diesen Aufsatz zur Veröffentlichung auszuarbeiten. Nach dem Erscheinen von J. Blechs Bestseller "Die Krankmacher" und Dörners Buch "Die Gesundheitsfalle" ist das jedoch überflüssig geworden, so dass ich ihn nun hier 'zur Ruhe bette'. Gleichwohl danke ich den Freunden und Kollegen Dr.med. Josef Rabenbauer, Freiburg und Dipl.Psych. Rüdiger Retzlaff, Heidelberg, für die Durchsicht des Manuskripts)




Wenn jemand eine Grippe hat, so ist er krank, lässt sich behandeln und wird gesund. Er hat dabei in aller Regel das Gefühl, dass diese Krankheit vorübergehend ist, dass der Arzt und vor allem sein eigener Körper tut, was nötig ist, um die Krankheit zu überwinden, und dass er 'im Grunde gesund' ist. Dieses 'Im-Grunde-gesund-Sein' schließt solche Krankheiten mit ein.
Ein anderer Fall: Jemand fühlt sich eigentlich ganz wohl, befürchtet aber, das werde nicht von Dauer sein und versucht, durch allerhand vorsorgliche Selbstbeobachtungen, Verrichtungen und Medikationen sich diesen Zustand möglichst lange zu erhalten. So jemand ist 'im Grunde krank', auch wenn er gesund ist, denn er hat keine Empfindung der Gesundheit, sondern nur eine der stets lauernden Krankheit.

Gesundheit ist also eine mindestens zweischichtige Angelegenheit: Das Vorliegen einer Krankheit auf der einen und das Bewusstsein bzw. das Empfinden von Gesundheit, die Grundgesundheit, auf der anderen Seite. Diese beiden Seiten haben erstaunlich wenig miteinander zu tun. Zur Grundgesundheit gehört nämlich auch das Wissen, dass es in Ordnung ist, ab und zu krank zu sein, während ihre Abwesenheit, wie im obigen Beispiel angedeutet, durchaus keine unmittelbare Krankheit zur Voraussetzung hat.

Während nun die Heilkunde in der Behandlung der Krankheiten Fortschritte macht, ist das, wie Dörner ausführt, bei der Erhaltung der Grundgesundheit eben gerade nicht der Fall.

Es lassen sich drei Bereiche identifizieren, die dazu beitragen, dass die Menschen der Industrienationen kränker werden, obwohl die Krankheiten viel besser behandelbar sind:
1. Gesundheit als umfassendes Wohlbefinden.
2. Gesundheit als Markt.
3. Gesundheit als individuelles Recht.


1. Gesundheit als umfassendes Wohlbefinden

Die WHO (1946) definiert Gesundheit bekanntlich folgendermaßen:
Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity. Und man fragt sich sofort, wie man es da schaffen soll, länger als ein paar Stunden am Stück gesund zu sein. Auf einmal ist Gesundheit etwas Entrücktes, etwas, das in seiner hehren Vollkommenheit, sobald es erreicht zu sein scheint, schon wieder zerfällt und uns mit der andauernden Sorge um die Wiedergewinnung zurücklässt.
In der Tat scheinen wir inzwischen dazu zu neigen, jede Unpässlichkeit, jedes Unwohlsein und letztendlich alles unserem Wollen Zuwiderlaufende als 'Kränkung' und Krankheit aufzufassen (Dörner). Die Abwehr des nötigen Leidens führt aber zu unnötigem Leiden. Es ist daher eine heilkundliche Aufgabe, das Nötige zu erkennen und zu lassen, damit das Unnötige vergehen kann. Und eine wissenschaftliche Aufgabe, das Unnötige so präzise wie möglich zu fassen. Denn in dem Maße, in dem alles Leiden als unnötig gebrandmarkt wird, wächst die Not! Verloren geht auch das Segensreiche des überstandenen und -therapeutisch ungestört- durchlebten Leidens. No pain, no gain.
Damit ist natürlich nicht gemeint dass eine erforderliche Behandlung unterbleibt, gemeint ist aber, dass etwa bei einer reaktiven Depression infolge eines Partnerverlustes nicht auf tiefer liegenden Problemen oder auf einer therapeutischen Lösung bestanden wird, sondern man es bei einer 'psychotherapeutischen Wundversorgung' bewenden lässt. Im Zusammenhang damit taucht auch die Frage nach der 'Normalität' wieder auf: In letzter Zeit komme ich häufiger in die Situation, Patienten erklären zu müssen, dass eine psychische Reaktion -beispielsweise die oben erwähnte reaktive Depression- ganz normal und von einem gesunden Organismus zu erwarten ist. Normalität ist hier nicht in dem Sinne der Normativitätsdebatten der 70er-Jahre gemeint, sondern als eine einfache Intervention, die dem Patienten den Boden unter den Füssen wiedergibt, den er in dem Glauben, dass alles Leiden Zeichen einer schweren Störung sei, verloren hat.

Das Streben nach Vollkommenheit hat in der Psychotherapie Tradition: dem Modell der Krankenbehandlung steht das Modell des 'persönlichen Wachstums' als eines sozusagen nach oben offenen Prozesses gegenüber. Dieses Modell impliziert auch, dass man sich nicht nur entwickelt, sondern für diese Entwicklung selbst moralisch verantwortlich ist. Es ist eine Art Verpflichtung, aus der sich dann oft ergibt, dass die Leute sich schuldig fühlen, wenn sie krank sind, so als seien sie ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden und also selber schuld. (Deshalb halte ich auch Konstrukte wie 'Krebspersönlichkeit' etc. für therapeutisch hochproblematisch). Auch hier ergeben sich neue psychotherapeutische Erfordernisse: anstatt Verständnis für psychische Krankheitsfaktoren zu wecken, muss ich jetzt manchmal die psychologische Attribution der Patienten eher abbauen und etwa die biologische (für die man nichts kann) betonen.

Wie sehr andererseits das Thema Verantwortlichkeit der 'Machbarkeit' untergeordnet wird, kann man z.B. an denjenigen Therapeuten und Gutachtern sehen, die in einer Art mephistophelischer Umkehr stets das Gute wollen und stets das Böse schaffen, wenn sie untherapierbare Gewaltverbrecher lieber noch für unzurechnungsfähig erklären und sie damit endgültig der Würde (eben nicht nur der Bürde!) ihrer Verantwortung entheben, als dass sie eine Grenze der therapeutischen Kunst anerkennen.


2. Gesundheit als Markt

Wenn Gesundheit etwas ist, was man 'machen' kann, wird sie zu einer Ware, die, wie alle anderen Waren auch, den Gesetzen des Marktes unterliegt. (Nach der WHO-Definition ist ja auch 'Wellness' expliziter Bestandteil von Gesundheit, und wenn man noch den von der beschädigten Grundgesundheit zusätzlich beflügelten Präventionssektor hinzunimmt, so tut sich hier ein Markt von wahrhaft gigantischen Ausmaßen auf.)

* In den letzten Jahren haben sich Ärzte von bestimmten Berufsverbänden einreden lassen, sie seien Unternehmer. Damit wird der Unterschied zwischen freiberuflicher Tätigkeit und Unternehmertum verwischt. Der Unternehmer produziert und verkauft eine Ware, erzeugt ggf. durch Werbung das Bedürfnis danach und tritt zu anderen Unternehmen der Branche in ein Konkurrenzverhältnis und einen Kampf um die Kundschaft. Wenn die freiberuflich erbrachte Dienstleistung solcherart zur Ware wird, kann der Patient nicht mehr unterscheiden, ob er behandelt oder ob ihm etwas verkauft werden soll, und es leidet das Vertrauen in den Arzt.

Betrachten wir die Konsequenzen dieser Unterwerfung der Heilkunde unter die Marktgesetze und den Wettbewerb etwas genauer (vgl. Deppe):

Die 'Produktanbieter' treten untereinander in ein Konkurrenzverhältnis und es werden zunächst nicht diejenigen die Oberhand gewinnen, die die beste Qualität liefern, sondern diejenigen, die die beste Marketing-Strategie haben. Dazu gehört neben den aus anderen Wirtschaftszweigen bekannten Werbe- und Konkurrenzvertreibungsmaßnahmen z.B. auch die Vorauswahl der Patienten nach prognostischen Kriterien, so dass die 'Firma' möglichst zufriedene Kunden hat. (Schon Fred Kanfer lehnte aus diesem Grund die Patientenzufriedenheit als alleiniges Qualitätskriterium ab und meinte in einem Supervisoren-Seminar: "Man würde dann einfach nur noch die behandeln, die sowieso gesund werden"):
"Je mehr der Wettbewerb zunimmt, desto mehr wird die kaufkräftige Nachfrage des Patienten angesprochen. Es wird damit ein merkantiler Anreiz geschaffen, dass mehr Leistungen erbracht werden, die Patienten wünschen gegenüber jenen, die sie brauchen. Sie orientieren sich immer mehr an dem, was Patienten / Versicherte aus Laiensicht unter Qualität verstehen. Die Qualität ärztlichen Handelns reduziert sich immer mehr auf die kurzfristige Zufriedenheit von Patienten" (Deppe). (In den USA, zunehmend auch bei uns, gibt es beispielsweise eine umfangreiche Werbetätigkeit für Kaiserschnitte: "Save your love channel. Have a Cesarean.").

Das Verhältnis zwischen Arzt/Psychotherapeut und Patient ändert sich von einem Vertrauens- zu einem Vertragsverhältnis mit den entsprechenden Folgen für die therapeutische Beziehung als Grundlage jeder Psychotherapie. Aus einer komplementären Beziehung wird eine symmetrische; damit entfallen sämtliche Maßnahmen, die diese Komplementarität zur Voraussetzung haben:
"Vertrauen ermöglicht die Mitteilung intimer Informationen, die - weil sie für die ärztliche Behandlung von essentieller Bedeutung sein können - auch der Schweigepflicht unterliegen. Darüber hinaus basiert das Vertrauensverhältnis auf einer ungleichen Beziehung, in der vom Experten erwartet wird, dass er nach bestem Wissen und Gewissen um das Wohl des Laien besorgt ist. [...] Verträge dagegen sind Ausdruck der jeweiligen Rechtsordnung. Sie stellen übereinstimmende Willenserklärungen mit vereinbarten gegenseitigen Verpflichtungen dar. Insbesondere die Entwicklung des Marktes und des privaten Eigentums haben den Charakter des Vertragswesens geprägt. Auf dem Markt treten sich nämlich formal gleichberechtigte Eigentümer gegenüber, die ihre Waren zu einem ausgehandelten und vereinbarten Preis tauschen" (Deppe).
Der zum 'Kunden' gewordene Patient passt auf, ob der Vertrag erfüllt wird und kann darüberhinaus nicht entscheiden, ob ihm vom Therapeuten aus therapeutischen oder ökonomischen Gründen von einer Maßnahme abgeraten wird, bzw. ob eine Leistung denn nun vollständig erbracht ist und etwa eine Desensibilisierungshierarchie mit fünf Items ausreichend bestückt ist. Und wenn ein Arzt heute einem Patienten sagt, es fehle ihm nichts, dann ist nicht mehr sicher, dass der sich darüber freut. Vielmehr kann es leicht sein, dass er sich schlecht behandelt und schlampig untersucht fühlt. Denn der Kunde erwartet nicht nur, dass das Produkt nach seinen Vorstellungen ohne eigene Anstrengung 'funktioniert' und dass es in seinen Bestandteilen bestimmbar und messbar ist, sondern auch, dass er es nach seinen Wünschen auswählen und erwerben kann (Liposuction, um nur ein Beispiel zu nennen).

Gleichzeitig werden neue Märkte erschlossen: Pharmaunternehmen lancieren pseudo-innovative Medikamente (sogenannte 'Me-Too-Präparate') oder sie erfinden neue Krankheiten (z.B. das sogenannte 'Sisi-Syndrom' als neue Form der Depression), für die sie dann die auf einmal dringend benötigte Medikation parat haben.

Das alles beeinträchtigt die Grundgesundheit, denn es erfordert vom Patienten nicht nur eine dauernde Überwachung seines eigenen Zustands, sondern auch noch, dass er selbst zum Experten wird und, anstatt sich auf den therapeutischen Prozess einzulassen, einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf die Überwachung der heilkundlichen Tätigkeit richten muss.

Im Bereich der Wellnesskultur wird dann vollends Tür und Tor geöffnet: "Das Leben wird prozessualisiert als Vitalisierung ohne Ende, wobei nur eins zu vermeiden ist: dass ein Mensch sich zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich für vital hält" (Dörner)


3. Gesundheit als individuelles Recht

Mit der Subsumption unter die Marktgesetze verändert sich auch das Recht auf Behandlung zu einem Recht auf ein Behandlungsergebnis: die therapeutischen Dienstverträge ändern sich in Richtung auf Werkverträge, bei denen nicht nur die Erbringung einer Leistung, sondern auch deren Ergebnis zur Debatte steht:
"Auf Seiten der Patienten werden Leistungen dann stärker unter dem Gesichtspunkt der Einklagbarkeit (Kunstfehler-Prozesse) und der Kontrolle (second opinion) gesehen. Es wird eine Gewährleistungspflicht erwartet. Aus Furcht vor Haftungsansprüchen wird sich die 'Absicherungsmedizin' ('defensive Medizin') ausweiten, d.h., es werden immer mehr diagnostische Maßnahmen durchgeführt, auch wenn sich daraus keine wissenschaftlich vertretbaren therapeutischen Konsequenzen ergeben." (Deppe).

Aber auch die Idee des Rechts auf Gesundheit an sich ist eine Leidensquelle. Ein Recht kann nämlich verweigert werden. Wir sind als Psychotherapeuten heute schon mit den psychischen Folgen der Verweigerung des Rechts auf einen Arbeitsplatz konfrontiert. Und während hier die Lösung tatsächlich darin bestehen könnte, dass jeder einen Arbeitsplatz bekommt, erscheint es fraglich, ob es jemals gelingen kann, jedem Gesundheit zu verschaffen:
"Vor diesem Hintergrund kommt man um die ebenso logische wie bedrückende Feststellung nicht herum, dass wir seit etwa 200 Jahren mit zunehmender Wut kategorial falsch mit Gesundheit umgehen - mit katastrophalen Folgen für die Entwicklung der Gesundheit als Mittel der Vitalität. Denn seit wir uns mit der Säkularisierung, der Aufklärung und der Moderne vom metaphysischen Ballast aller Transzendenz befreien (von der Aristokratie und der Kirche bis zu Gott und der Natur), alles andere nur noch als Aneignungsobjekt wahrnehmen können, haben wir zwar allen Anlass, uns über den grandiosen Zugewinn an Freiheit, Verfügbarkeit und Reichtum dieser Eroberungsfeldzüge zu freuen, in denen der Mensch sich zunehmend an die Stelle der Natur, des Schicksals oder Gottes stellt, gewinnen aber offenbar erst allmählich ein Gespür für die Nebenwirkungen dieses Fortschrittsprozesses [...]" (Dörner).


-2003 / *Absatz ergänzt 2010-


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