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Psychotherapie oder Psychotechnik?

Was mich zu den folgenden Überlegungen veranlasst, sind die aus der praktischen psychotherapeutischen Tätigkeit heraus immer häufiger zu beobachtenden Bestrebungen, die psychologische Heilkunde doch noch als Teil einer industriellen Verfertigung von Gesundheit zu etablieren und sie denselben Modellen und technischen Leitlinien zu unterwerfen, von denen die Medizin inzwischen weitgehend vereinnahmt zu sein scheint.

In einer Zeit also, in der selbst die Dienstleistungen des Gemeinwohls, und hier eben vor allem die Heilkunde, den Gesetzen der industriellen Marktwirtschaft unterworfen werden, und in der ich mich gelegentlich wieder bei Gedanken über die Subversivität der Psychotherapie ertappe und dazu tendiere, Psychotherapie erneut auch als Veränderung der äußeren Lebensbedingungen mancher Patienten zu betrachten - Lebensbedingungen, die sich längst nicht mehr nur in einem ökologischen, sondern zunehmend in einem genuin psychologischen Sinne als toxisch darstellen -, in einer solchen Zeit glaube ich, dass nicht nur ich als einzelner Psychotherapeut, sondern die Zunft als ganze aufgerufen ist, sich zu positionieren und ihr Tun auf eine Basis zu stellen, die verhindert, dass die Psychotherapie von diesem Getriebe resorbiert und als Psychotechnik wieder ausgeschieden wird.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass diese Debatte an vielen Orten, auch in der akademischen Psychologie und Psychotherapieforschung geführt wird; leider kommt aber von denen, die in der Psychotherapie mehr sehen als wissenschaftliche Technik zu wenig an der 'Basis' (vor allem der verhaltenstherapeutischen) an um ein Gegengewicht zu den oben angeführten Tendenzen darzustellen.

Deshalb möchte ich hier in aller Kürze einige der relevanten Punkte anreißen und sie zur Diskussion stellen bzw. auf sie und die Bedeutung dieser Diskussion für die künftige Praxis aufmerksam machen.


1. Modelle

In einer großen Meta-Studie zur Psychotherapieforschung identifiziert Bruce Wampold (2001, Buchholz 2003a) zwei grundlegende Modelle:
Das medizinische Modell (medical model) beschreibt Psychotherapie als einen Prozess, in dem die Störung des Patienten taxonomisiert und qua psychologischer Hypothese zu bestimmten --im Idealfall manualisierbaren-- therapeutischen Techniken und Verfahrensweisen in eine emprisch prüfbare Beziehung gesetzt wird, die diese Techniken als hinreichend für die Behebung der Störung ausweist.

Demgegenüber beschreibt das Kontextmodell (contextual model) Psychotherapie als einen emotionalen, von der Heilsamkeits-Überzeugung des Patienten und des Therapeuten sowie deren Glauben an die verwendeten (psychologischen) Erklärungen getragenen Beziehungskontext, in den Techniken und Verfahrensweisen als notwendige aber nicht hinreichende Bedingungen eingehen und diesen Kontext stützen oder sogar mit erzeugen, ihn aber nicht ersetzen.

Das wirklich Verblüffende an diesem Kontextmodell, das ja als theoretische Überlegung so neu auch nicht ist (z.B. Frank, 1961), besteht darin, dass Wampold seine Überlegenheit in der Erklärung der bereits existierenden empirischen Psychotherapieforschung zeigen kann. Es erklärt z.B. warum die Effektivitäts-Varianz zwischen Therapeuten derselben Schule oft größer ist, als die zwischen Therapeuten verschiedener Schulen. Es zeigt vor allem auch, dass Psychotherapie über alle Verfahren hinweg effektiv und wirksam ist, dass aber diese Wirksamkeit mehr damit zu tun hat, inwieweit es dem Therapeuten gelingt, den Kontext herzustellen, als damit, inwieweit er seine Techniken beherrscht.

Am Wampoldschen Modell ist zu kritisieren, dass es den Anschein erweckt, Psychotherapie könne ohne die Beherrschung eines therapeutischen Handwerkszeugs -eben der Techniken- von jedem der guten Willens ist, durchgeführt werden (Revenstorf, 2007, mündl.Mitteilg.). Die Beherrschung des Handwerkszeugs ist aber unerlässlich. Und es ist auch in einem wohlverstandenen Kontextmodell nicht unsinnig, Techniken und Verfahren hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zu untersuchen; unsinnig ist nur, diese Verfahren als hinreichende Bedingungen zu charakterisieren und den Therapeuten beispielsweise ein manualisiertes Vorgehen zu Lasten des Kontextes vorschreiben zu wollen.


2. Therapie-Leitlinien

Das bringt uns zur Frage der seit einiger Zeit um sich greifenden 'evidenzbasierten' Therapie-Leitlinien. Zunächst fällt an ihnen auf, dass die Idee dazu nicht von Ärzten und Psychotherapeuten stammt, sondern von Gesundheitsökonomen (Petermann, 2004). Sie haben demnach auch nicht viel mit den heilkundlich bereits existierenden Vorgaben zu tun, wie sie z.B. in den Berufsordnungen und in den Standards der verschiedenen Therapieverfahren niedergelegt sind, sondern es geht darum, die Behandlung selbst, ähnlich einem industriellen Produktionsprozess, nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten zu optimieren. Und zwar sollen diejenigen Behandlungen bestimmt und vorgeschrieben werden, die bei den geringsten Kosten den höchsten Nutzen haben. Das wäre eigentlich auch in Ordnung, wenn unter 'Behandlung' auch Kontextvariablen verstanden würden, was aber meist nicht der Fall ist. 'Behandlung' bezieht sich vielmehr auf isolierbare Techniken in Analogie zu den isolierbaren Bestandteilen eines Medikaments oder einer chirurgischen Operation.

Um zu einer in diesem Sinne erforderlichen Vergleichbarkeit der verschiedenen medizinischen und psychologischen Behandlungstechniken zu kommen, müssen die Vorgehensweisen präzise beschreibbar sein und den Kriterien einer zuverlässigen experimentellen Operationalisierung, Prüfung und interindividuellen Replizierbarkeit genügen. Dazu muss das 'medizinische Modell' verwendet werden, in dem alle idiographischen Variablen (Versuchsleiter, Therapeutenperson, kurz: alle Kontextvariablen) zu kontrollieren, bzw. vom Design her auszuschließen sind. (Am Rande und eher spaßeshalber sei erwähnt, dass von einigen besonders Eifrigen (z.B. Degen, 2000) tatsächlich gefordert wurde, Psychotherapie müsse, wie die Pharmakotherapie, durch Doppel-Blind-Studien beforscht werden. Nun kann zwar ein Arzt gegenüber dem im Rahmen einer Studie verabreichten Medikament 'blind' sein, aber doch nicht ein Psychotherapeut gegenüber der von ihm angewandten Intervention!)

Damit entfällt in diesem Leitlinien-Modell die systematische Beforschung genau derjenigen Variablen, die den größten Anteil an den beobachteten Effektstärken haben.


3. Störungsspezifität

Das medizinische Modell schreibt vor, dass die Heilmittel auf eine spezifische Störung anzuwenden sind, so dass angegeben werden kann, welche Technik oder welches Medikament bei dieser genau eingegrenzten Störung wirksam sind. Dabei entfallen alle unspezifischen Wirkfaktoren des Kontextmodells. Revenstorf (2005) führt dazu u.a. aus, dass schon die isolierte Betrachtung nur einer Störung angesichts der hohen und variablen Ko-Morbidität bei psychischen Erkrankungen fragwürdig ist und dass, anders als bei einer pharmakologischen Untersuchung, Placebo und Verum in der Psychotherapie beide psychisch und dementsprechend schwer auseinander zu halten sind.
Die Betrachtung der isolierten Störung macht die Psyche zu einem sozusagen sezierbaren und in Teilbereiche zergliederbaren Analogon zu den menschlichen Organen und schließt damit alle diejenigen Faktoren von der Untersuchung aus, die mit der Ganzheit bzw. der 'psychischen Konsistenz' (Grawe, 1998) zu tun haben. Wiederum: Nicht zu kritisieren ist, dass solche Versuche unternommen werden, sondern nur, dass sie allen anderen Betrachtungsweisen als überlegen betrachtet werden.


Fazit

Die (Natur-)Wissenschaft liegt meiner Tätigkeit als Psychotherapeut deskriptiv zu Grunde, nicht aber schwebt sie präskriptiv über ihr.
Ich bin nicht frei, mir für meine Tätigkeit meine eigene 'wissenschaftliche' Grundlage zu basteln, und ich bin auch nicht frei, etwas wissenschaftlich eindeutig als falsch Nachgewiesenes meiner Tätigkeit trotzdem oder weiterhin zu Grunde zu legen. Beides unterscheidet mich als professionellen Psychotherapeuten von einem Scharlatan. Aber ich möchte die Freiheit behalten, die Profession (vgl. Buchholz, 2003b) nicht auf ihre wissenschaftliche Grundlage reduzieren zu müssen, wenigstens nicht, wenn diese Grundlage keine Aussagen mehr über die Kontextqualitäten enthält.

In den Nebelkammern der Wissenschaft nämlich ist zu sehen, was sonst nicht zu sehen wäre, aber nicht mehr zu sehen, was sonst zu sehen wäre.



Quellen:

Buchholz, M.B. (2003a) Rezension zu Wampold, 2001.
http://www.dgpt.de/dokumente/RezensionBuchholzWampold.pdf
Gedruckt in: Psyche 57/ 7, S.673-676, Stuttgart: Klett-Cotta

Buchholz, M.B. (2003b): Sind Psychotherapie und professionelle Psychotherapie identisch? Punktum, Ausgabe September 2003. Zürich: Schweizerischer Berufsverband für Angewandte Psychologie.
http://www.sbap.ch/pdf/punktum/punktum10Sep2003.pdf

Degen, R. (2000): Lexikon der Psycho-Irrtümer. Frankfurt: Eichborn.

Frank, J.D. (1961): Persuasion and healing. New York: Schocken.

Grawe, K. (1998): Psychologische Therapie. Göttingen: Hogrefe

Neukom, M. (2003): Für eine offene Psychotherapieforschung. Punktum, Ausgabe September 2003. Zürich: Schweizerischer Berufsverband für Angewandte Psychologie.
http://www.sbap.ch/pdf/punktum/punktum10Sep2003.pdf

Petermann, F. (2004): Evidenzbasierte Psychotherapie: Hilfe oder Fessel? Vortrag auf den Stuttgarter Therapietagen, 29.10.2004 (im Druck).

Revenstorf, D. (2005): Das Kuckucksei - Über das pharmakologische Modell in der Psychotherapieforschung. Psychotherapie, 10,1, 22-31. München: cip-Medien
http://www.revenstorf.de/meg/downloads/Das Kuckucksei.pdf

Wampold, B.E. (2001): The Great Psychotherapy Debate. Models, Methods and Findings. Mahwah, NJ/London: Lawrence Earlbaum Associates.


-2005/ korr. 2007-


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